Träume sind wie eine Therapie

Träume sind wie eine Therapie

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Ihre Träume sollten Sie ernst nehmen. Wissenschaftsautor Stefan Klein über die Frage, warum wir im Traum zwar nie den Zug erwischen, aber trotzdem nebenbei die realen Probleme des Alltags lösen.

Stefan Klein, 49, studierte Philosophie und ist promovierter Biophysiker. Er arbeitete als Redakteur bei "Spiegel" und "Geo", bevor er sich als Bestsellerautor von wissenschaftlichen Sachbüchern einen Namen machte. In seinem neuesten Buch beschäftigt er sich mit dem, was nachts mit uns passiert: "Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit" (288 S., 19,99 Euro, S. Fischer). Stefan Klein lebt mit seiner Familie in Berlin.

BRIGITTE: Herr Klein, viele Menschen denken bei Träumen immer noch an Sigmund Freud und seine Lehre von den Traumsymbolen: Eine Pfeife ist ein Phallus, ein Koffer eine Vagina, im Traum eine Leiter auf- und abzugehen steht für Geschlechtsverkehr...

Stefan Klein: ...und ausfallende Zähne bedeuten Onanie, aber fragen Sie mich nicht, warum. . .

...und ich nehme stark an, das ist heute überholt. Aber hatte Freud denn mit allem unrecht?

Nein. Freud hat sich zwar in vielem getäuscht, aber manches hat er schon vor 115 Jahren ganz richtig gesehen. Zum Beispiel, dass im Traum Erinnerungen verarbeitet werden. Allerdings glaubte Freud, dass Träume mit uns Verstecken spielen, und das war sein großer Irrtum: dass unter dem Deckmantel einer Traumsymbolik Verbotenes lauert.

Die Gegenthese zu Freud vertritt der heute 81-jährige Psychiater und Traumforscher Allan Hobson, der sagte: Träume sind im Prinzip nur geistiger Müll, der keinerlei Beachtung verdient.

Mittlerweile hat aber auch er seine Meinung revidiert. Heute wissen wir: Wir brauchen Träume. Und sie haben einen Sinn, denn sie bereiten uns auf die Zukunft vor. Ohne die Möglichkeit zu träumen würde unser Verstand gar nicht funktionieren. Weder der jüngere Hobson noch Freud konnten diese Bedeutung der Träume erkennen. Sie erschließt sich uns erst jetzt durch die enormen Fortschritte der Hirnforschung.

Jeder Mensch träumt jede Nacht, und zwar permanent und nicht nur ab und zu, wie man früher dachte. Sie schreiben: Schlafen bedeutet träumen.

Ja, wir träumen buchstäblich die ganze Nacht. Auch das ist eine sehr neue Erkenntnis. Man glaubte ja lange, wir würden nur in den sogenannten REM-Phasen träumen; REM steht für "Rapid Eye Movement", weil sich in dieser Schlafphase die Augen schnell bewegen. Doch inzwischen ist klar, dass wir sogar im Tiefschlaf träumen. Es gibt keine traumlosen Schlafphasen. Und da Schlaf gut ein Drittel Ihres Lebens ausfüllt, heißt das: Mit Träumen bringen Sie mehr Zeit zu als mit jeder anderen Tätigkeit.

Und dann erinnert man sich meistens noch nicht mal daran. Es sei denn, es war etwas Unangenehmes.

Wie häufig erinnern Sie sich denn an Ihre Träume?

Vielleicht ein- bis zweimal die Woche.

Machen Sie es sich mal für zwei Monate zur Gewohnheit, mit dem Vorsatz einzuschlafen: Morgen will ich mich an meine Träume erinnern. Und morgens springen Sie nicht sofort auf, sondern lassen einen Moment die Nacht Revue passieren und schreiben dann einige Stichworte auf. Oder erzählen Sie einem Menschen, mit dem Sie zusammenleben, regelmäßig davon. Ich garantiere Ihnen: Sie werden dann von genauso vielen angenehmen wie unangenehmen Träumen berichten. Wenn Sie sich dagegen nur an wenige Träume erinnern, tritt ein Effekt ein, den wir im Alltag genauso erleben: Wir erinnern uns an negative Emotionen leichter als an positive Emotionen. Wenn ein Großteil des Arbeitstags erfreulich war, Sie sich aber eine halbe Stunde geärgert haben - na, was erzählen Sie dann wohl abends zu Hause? Eben.

Warum gleichen sich einige Träume?

Was verpasse ich denn, wenn ich mich nicht an meine Träume erinnere?

Viel, denn Träume sind sehr unterhaltsam. Ich staune immer wieder über ihre Bilder, ihren Einfallsreichtum und ihren Humor. Träume sind oft unglaublich komisch! Und sie offenbaren eine tiefe Wahrheit über uns: wie unser Geist funktioniert, was uns wirklich beschäftigt. Um das zu erkennen, müssen Sie sich gar nicht mit fragwürdigen Symbolen abmühen. Träume drücken ihre Botschaft ganz unmittelbar aus, meistens über Gefühle: Wenn Sie nachts im Traum verfolgt werden, haben Sie Angst, und diese Angst ist einfach nur Angst. Da müssen Sie überhaupt nichts deuten, die spüren Sie.

Aber woher kommt denn diese Angst? Ist das etwas, was ich - um jetzt doch mal ein Freud-Wort zu benutzen - tagsüber verdrängt habe?

Nicht verdrängt. Es gibt Grundstimmungen, die sich relativ langsam ändern. Wir nehmen sie tagsüber oft wenig wahr, weil wir zu sehr von äußeren Reizen abgelenkt sind. Trotzdem bestimmen sie unser Fühlen und Handeln. Ich nenne das die "Unterströmungen der Seele", und diese werden nachts offensichtlich. Wir machen uns die Erklärung unserer Emotionen zu leicht, wenn wir alles auf äußere Einflüsse schieben: "Ist doch klar, dass ich schlecht drauf bin, die Kinder waren unausstehlich, die Arbeit läuft nicht, jemand hat mich geärgert." Dabei ist das überhaupt nicht so klar. Wäre ich nämlich in einer anderen Stimmung gewesen, hätte ich dieselben Ereignisse wahrscheinlich nonchalant weggesteckt. In Träumen empfinden wir die stärksten Gefühle, ganz ohne Reize von außen. Sie zeigen uns, wie wir die Wirklichkeit, die wir erleben, selbst konstruieren. Das zu erkennen ist oft eine große Befreiung.

Neben der Verfolgungsjagd gibt es noch andere typische Träume, die fast jeder schon mal hatte: Sexträume; Träume, in den man fällt; Träume, in denen man etwas versucht und dabei immer wieder scheitert. Warum sind gerade diese Träume so universell?

All diese Träume drehen sich um sehr elementare Gefühle: Angst, Lust, Ärger. Das ist kein Zufall, denn im REMSchlaf verarbeiten wir Gefühle. Dabei wird der emotionale Gehalt einer Tageserfahrung von den Fakten getrennt, denn beides speichert das Gehirn in unterschiedlichen Regionen. Darum hilft es, über etwas, was einen aufgeregt hat, einmal zu schlafen: Danach können Sie an die betreffende Szene denken, ohne dass sich sofort wieder die negativen Gefühle einstellen. So können Sie beispielsweise der Kollegin, die Sie gestern sehr geärgert hat, am nächsten Tag wieder unter die Augen treten. Träume sind wie eine natürliche Psychotherapie. Und Untersuchungen zeigen: Wer seine Träume bewusst wahrnimmt, kommt oft leichter über schwierige Situationen hinweg.

Und woher kommen dann diese bizarren Handlungen im Traum? Zum Beispiel, dass so vieles im Traum nicht klappt: Ich muss dringend zum Bahnhof, aber ich finde den Wohnungsschlüssel nicht, die U-Bahn fliegt davon, ich treffe einen Schulfreund und dann einen Waschbären, plötzlich bin ich ganz woanders...

Im Traum arbeitet unser Verstand sehr sprunghaft. Wir können auch nicht zwischen Vorstellung, Absicht und Wirklichkeit unterscheiden. Wenn mir tagsüber mein Bruder einfällt, dann denke ich: "Ich rufe ihn nachher an." Im Traum steht er gleich vor mir. Wenn Sie im Traum ständig den Faden verlieren, liegt das also keineswegs daran, dass Ihnen das Unbewusste dazwischenfunkt. Sie denken im Traum so ähnlich wie jemand, der an einer Aufmerksamkeitsstörung leidet. Und deswegen kommen Sie natürlich auch nie bei dem Zug an, den Sie erreichen wollten.

Viele Menschen erscheinen erst nach Jahren in Träumen auf

Ein weiterer Traumklassiker, den viele kennen: Man muss noch einmal Abitur machen oder eine andere längst bestandene Prüfung wiederholen.

Diesen Traum habe ich auch oft. Was absolut kurios ist, da ich nie Prüfungsangst hatte. Ich habe etwas über mich selbst gelernt, als mir auffiel, dass ich diese Träume sehr häufig habe, wenn die Veröffentlichung eines Buches naht oder wenn ich einen wichtigen Vortrag halten muss. Wie gesagt, Träume erschließen sich über Gefühle: Offensichtlich gibt es da eine Angst, ich könnte mich mit meinen Ideen zu stark exponieren.

Warum träumt man so oft von Menschen, die man sehr lange nicht gesehen und an die man auch nicht gedacht hat, aber deutlich seltener von Arbeitskollegen, mit denen man täglich zu tun hat?

Die Menschen, mit denen wir im Alltag viel zu tun haben, erscheinen sehr wohl in unseren Träumen - aber oft erst nach Jahren. Bei mir dauerte es zum Beispiel fünf Jahre, bis ich anfing, regelmäßig von meinen Kindern zu träumen. In Träumen werden Erinnerungen angelegt. Aber das heißt nicht, dass wir einfach Schnappschüsse aus unserem Leben aufbewahren und jeden Tag ein neuer dazukommt. So funktioniert das Gehirn nicht. Das Gehirn verknüpft vielmehr die neuen Informationen mit dem, was im Gedächtnis bereits gespeichert ist. Dafür müssen aber immer wieder die alten Erinnerungen abgerufen werden. Und diese sieht man im Traum.

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